Verfahrensrecht | Nachträgliche Berücksichtigung von Nachlassverbindlichkeiten (BFH)

Die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 8 AO wird auch dann beendet, wenn der Vorläufigkeitsvermerk vom Finanzamt aufgehoben wird. Auf den Wegfall der Ungewissheit und die Kenntnis des Finanzamts von den Tatsachen, wegen derer die Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig erging, kommt es dann für die Beendigung der Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist nicht mehr an. Vor der Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks dem Grunde nach entstandene Nachlassverbindlichkeiten, die erst danach beziffert und konkretisiert werden, führen nicht zu einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Das gilt auch dann, wenn das Finanzamt erst nach Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks Kenntnis von den Nachlassverbindlichkeiten erlangt (BFH, Urteil v. 26.7.2023 - II R 5/21; veröffentlicht am 2.11.2023).

Sachverhalt: Die Klägerin ist Alleinerbin ihres 2005 verstorbenen Großvaters (Erblasser). Sie gab am 31.5.2007 eine Erbschaftsteuererklärung ab.

Der Erblasser hatte zu Lebzeiten eine Liechtensteiner Stiftung errichtet und dieser Vermögen übertragen. In einem Reglement betreffend die Begünstigungen aus dem Stiftungsvermögen wurde unter anderem festgelegt, dass der Erblasser zu seinen Lebzeiten Erstbegünstigter bezüglich des gesamten Stiftungsvermögens und -einkommens sein sollte, was insbesondere das freie Verfügungsrecht über das ganze Vermögen und jegliche Einkünfte der Stiftung umfasste. In Bezug auf den Betrag sowie den Zeitpunkt jeglicher Zahlung oder Zuweisung von Stiftungsvermögen hatte der Stiftungsrat ausschließlich gemäß den Weisungen des Erblassers zu handeln.

Der Erblasser hatte testamentarisch seinen Sohn, den Vater der Klägerin, zum alleinigen Vorerben eingesetzt und die Klägerin zur alleinigen Nacherbin. Der Vater der Klägerin schlug die Erbschaft aus. Im Hinblick auf die Vermögensausstattung der Liechtensteiner Stiftung machte er gegenüber der Stiftung Pflichtteilsergänzungsansprüche nach § 2329 BGB geltend.

In einem nachfolgenden Rechtsstreit durch sämtliche Liechtensteiner Gerichtsinstanzen wurde die Stiftung vom Liechtensteiner Fürstlichen Obersten Gerichtshof am 5.7.2013 verurteilt, einen Betrag in Höhe von X € zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.10.2006 an den Vater der Klägerin zu zahlen sowie über die Instanzen hinweg entstandene Verfahrenskosten zu erstatten. Ein unmittelbar nachfolgendes im Jahr 2013 abgeschlossenes Beschwerdeverfahren der Stiftung vor dem Liechtensteiner Staatsgerichtshof hatte keinen Erfolg. Es erfolgte im Nachgang eine Zwangsvollstreckung in das bei einer Schweizer Bank befindliche Konto der Stiftung. Der Vater der Klägerin erhielt hieraus rund Y €. Dieser Betrag entsprach dem verbliebenen Stiftungsvermögen.

Das FA setzte mit Bescheid v. 5.11.2010 Erbschaftsteuer gegen die Klägerin fest. Dabei erfasste das FA die Liechtensteiner Stiftung als sonstigen Vermögenswert des Nachlasses und den Pflichtteilsergänzungsanspruch des Vaters der Klägerin als Erbfallschuld. Der Bescheid ließ einen bereits durch einen früheren Bescheid angeordneten Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 AO wegen der Höhe des Pflichtteilsanspruchs bestehen.

Im Mai 2014 fragte FA bei der Klägerin nach, ob sich unter anderem die Höhe des Pflichtteilsergänzungsanspruchs des Vaters geändert habe. Da von Seiten der Klägerin keine Reaktion auf diese Nachfrage erfolgte, erklärte das FA mit Bescheid vom 4.8.2014 den Erbschaftsteuerbescheid vom 05.11.2010 für endgültig.

Mit Schreiben v. 29.7.2015 informierte die Klägerin das FA über die Beendigung der Rechtsstreitigkeiten in Liechtenstein bezüglich des Pflichtteilsergänzungsanspruchs des Vaters und beantragte eine Korrektur des Erbschaftsteuerbescheids dahingehend, den von den Liechtensteiner Gerichten dem Vater der Klägerin zuerkannten Betrag und die Prozesskosten in voller Höhe als Nachlassverbindlichkeiten zu berücksichtigen.

Das FA lehnte den Antrag auf Änderung des Erbschaftsteuerbescheids mit der Begründung ab, dass die Festsetzungsfrist abgelaufen sei. Die hiergegen gerichtete Klage hatte in erster Instanz teilweise Erfolg (FG Münster, Urteil v. 4.2.2021 - 3 K 1941/16 Erb).

Die Richter des BFH dagegen hoben das FG-Urteil auf und wiesen die Klage ab:

  • Zwar ist das FG zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei den Kosten der Liechtensteiner Gerichtsverfahren und Zinsen um Nachlassverbindlichkeiten im Sinne des § 10 Abs. 5 Nr. 3 Satz 1 ErbStG handelt, auch wenn die Gerichtskosten und Zinsen nicht unmittelbar von der Klägerin, sondern von der Stiftung getragen worden sind.
     
  • Die Kosten konnten jedoch bei der Festsetzung der Erbschaftsteuer nicht mehr berücksichtigt werden, weil aufgrund des Eintritts der Festsetzungsverjährung eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ausgeschlossen war und die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht erfüllt waren.
     
  • Vorliegend war zwar der Ablauf der Festsetzungsfrist zunächst nach § 171 Abs. 8 Satz 1 AO gehemmt, da die Erbschaftsteuer mit Bescheid vom 5.11.2010, das heißt vor Ablauf der Frist, in Bezug auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch des Vaters der Klägerin weiterhin vorläufig festgesetzt worden ist. Ist die Festsetzung einer Steuer nach § 165 AO vorläufig festgesetzt, endet die Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 8 Satz 1 AO nicht vor dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Ungewissheit beseitigt ist und die Finanzbehörde hiervon Kenntnis erhalten hat.
     
  • Die Ablaufhemmung wird jedoch auch dann beendet, wenn der Vorläufigkeitsvermerk vom FA aufgehoben wird (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, § 171 AO Rz 81a; Paetsch in Gosch, AO § 171 Rz 139).
     
  • Unabhängig von der Frage, ob in der Endgültigkeitserklärung nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO ein Steuerbescheid (§ 155 AO) zu sehen ist, handelt es sich bei der Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks jedenfalls um einen Verwaltungsakt, dem eine nochmalige Prüfung der Steuerfestsetzung durch das FA zugrunde liegt. Auf den Wegfall der Ungewissheit und die Kenntnis des FA von den Tatsachen, wegen derer die Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig erging, kommt es in diesem Fall für die Beendigung der Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist nicht an.
     
  • Das FA hat im vorliegenden Fall den Vorläufigkeitsvermerk in Bezug auf die Pflichtteilsergänzungsansprüche des Vaters der Klägerin mit Bescheid v. 4.8.2014 aufgehoben. Zu diesem Zeitpunkt war die Festsetzungsfrist abgelaufen und somit die Festsetzungsverjährung eingetreten.
     
  • Eine Änderung des Erbschaftsteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgrund des Schreibens der Klägerin v. 29.7.2015 war danach aufgrund des Eintritts der Festsetzungsverjährung nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO nicht möglich.
     
  • Auch die Voraussetzungen einer Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sind nicht erfüllt. Die Höhe der aufgrund der Geltendmachung der Pflichtteilsergänzungsansprüche durch den Vater der Klägerin verursachten Nachlassverbindlichkeiten im Sinne des § 10 Abs. 5 Nr. 3 Satz 1 ErbStG stand bereits mit der Beendigung der Liechtensteiner Prozesse im Jahr 2013 fest, somit vor der endgültigen Festsetzung der Erbschaftsteuer mit Bescheid vom 4.8.2014, sodass kein rückwirkendes Ereignis vorliegt.

Quelle: BFH, Urteil v. 26.7.2023 - II R 5/21; NWB Datenbank (il)

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